Mattias erster Tag in der Spielgruppe  
   
   
   
   
   
   
   


2007

Im September fängt die Spielgruppe an. Mattias wird einmal pro Woche gehen. Wir sind gespannt, wie er sich verhalten wird, ist er doch sehr scheu und zurückgezogen in
einer Gruppe mit anderen Kindern.
Es läuft gut, er geht gerne hin. Ein paar Mal gibt es ganz normale Zwischenfälle mit Umfallen und Schlägen von den anderen Kindern. Das verängstigt ihn, da er sich körperlich nicht wehren kann. Auch fällt ihm das Aufstehen vom Boden schwer.
Mattias versteht gut Schweizerdeutsch, reden tut er es allerdings fast nicht. Bis jetzt hat er mehr Kontakt mit der schwedischen Sprache gehabt, da ich in meiner Muttersprache Schwedisch mit den Kindern spreche.

Bis November wird Mattias gegen alles Mögliche geimpft. Da wir gegenüber Impfungen eher skeptisch eingestellt sind, haben wir die Kinder nur gegen Starrkrampf geimpft. Jetzt muss alles innerhalb kurzer Zeit nachgeholt werden! Wie wird sein kleiner Körper das verkraften? Zudem werden Mattias’ Blut und Urin untersucht. Dann fängt er mit der Kortisontherapie an, zu der wir aufgrund der möglichen, teilweise schwer wiegenden, Nebenwirkungen widerwillig Ja sagen. Unter anderen können ein gesteigerter Appetit und Gewichtszunahme, Osteoporose, dünne Haut, Morbus Cushing (aufgeschwollenes Gesicht), Wachstumshemmungen (er würde nicht so gross werden), erhöhter Augeninnendruck, Konjunktivitis (grauer Starr) auftreten, um nur ein paar Nebenwirkungen zu erwähnen. Aber was bleibt Mattias sonst? Es gibt ja keine Alternative zur Kortisontherapie ausser gar keine. Doch solange die Gehfähigkeit gegeben ist, gestaltet sich auch der restliche Krankheitsverlauf positiver. Trotzdem macht es Angst zu wissen, was während der Therapie alles schief gehen könnte und welche Auswirkungen sie haben könnte. Wir sagen uns, sollte er unter den Nebenwirkungen leiden, würde das Kortison abgesetzt.
Bis dahin haben wir mit Mattias nicht über seine Krankheit gesprochen. Damit er versteht, warum er die Tabletten schlucken muss, wollen wir mit ihm reden. Aber mit welchen Worten? Wieviel versteht ein 3-jähriges Kind? Da er während des Sommers und Herbstes häufig umgefallen ist und sich darüber ärgert, erkläre ich ihm, dass seine Beine schwach sind. Das habe er ja selber bemerkt. Damit die Beine stärker werden, müsse er nun die Tabletten einnehmen. Diese Erklärung kommt ganz gut an, er schluckt die Tabletten ohne Probleme. Mattias nimmt während 10 Tagen die Tabletten, dann macht er 10 Tage Pause.Und dann wieder 10 Tage Tabletten... Ich besorge mir eine grosse Agenda, wo ich die Tablettentage rot markiere.

Mattias verträgt das Kortison gut! Wir merken über den Winter, dass er stärker wird, weniger hinfällt und aktiver ist. In den kortisonfreien Tagen ist er etwas schwächer, mag nicht ganz so gut mithalten. Von den Nebenwirkungen merken wir noch nichts.

Die Ärzte empfehlen uns, Mattias in der Spielgruppe einen Mundschutz anzuziehen, da er wegen der Kortisontherapie infektanfälliger als andere Kinder sein wird. Wir kaufen eine Packung, ziehen sie zu Hause an und entscheiden uns, diese NICHT einzusetzen. Furchtbar feucht wird es unter der Maske und es wäre eine grosse Ausgrenzung. Stattdessen informieren wir die Eltern mit Kindern in der Spielgruppe und bitten sie, uns mitzuteilen, falls ihr Kind mit Husten usw. in die Spielgruppe geht. Dann würden wir Mattias - je nach seinem Zustand - zu Hause behalten. Aber er ist weniger erkältet als die anderen Kinder!

Als Mutter kann man Trägerin der Krankheit sein. Es besteht 50 % Risiko, dass ein weiterer Sohn die Krankheit hätte und eine Tochter würde Trägerin sein. Deswegen wird mein Blut untersucht. Da die Analyse negativ ausfällt – ich bin nicht Überträgerin – handelt es sich bei Mattias mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine Neumutation. Es besteht aber ein Restrisiko eines Keimbahnmosaiks in meinen Eizellen (kommt sehr selten vor). Dies hätte ich dann an Hanna vererbt und sie könnte es ihrem Sohn weitergeben = Duchenne. Wenn Hanna volljährig ist kann sie eine genetische Beratung machen.

Bereits im September - 3 Monate nach der Diagnose - besuche ich eine Selbsthilfegruppe für Eltern mit Duchenne-Jungs. Dani will nicht mit gehen und braucht noch mehr Zeit.. Wir treffen uns zu Hause bei einer Familie, deren Junge bereits in einem elektrischen Rollstuhl sitzt. Obwohl ich ihn nur kurz gesehen habe, verfolgt mich das Bild des hilflosen Jungen während langer Zeit.
Der Kontakt mit den anderen Eltern hat mir trotzdem Mut gegeben. Das Leben geht weiter, man kann es positiv gestalten und es muss nicht einmal so schlimm werden!
Sie raten mir, so viel wie nur möglich mit Mattias zu unternehmenmachbar. Im Rollstuhl sitzend ist dann vieles nicht mehr durchführbar.

Mattias wird 3. Es ist ein wunderschöner und warmer Herbsttag und wir machen im Garten ein Kinderfest. Ich muss ständig die Tränen unterdrücken, denn ich erlebe Mattias sehr glücklich an diesem Tag, unwissend über seiner Zukunft. Wie viele Geburtstage dürfen wir mit ihm noch feiern? Die Lebenserwartung von Duchenne-Buben ist eingeschränkt.

Dani und ich haben das Gefühl, erstaunlich schnell aus dem Loch und der Trauer zu sein. Für Mattias hat sich sowieso nicht viel verändert. Seine Krankheit ist vielmehr in unseren Köpfen als im Alltag spürbar. Haben wir uns damit abgefunden? Nein, es kommt wieder hoch. Verzweiflung, Wut, Ohnmacht, Traurigkeit und depressive Verstimmungen. Ich gehe ab Dezember regelmässig in eine Gesprächstherapie bei einer Psychologin, was mir hilft. Da Hanna nie durchgeschlafen hat - sie ist nun 2 Jahre alt - leide ich unter schweren Schlafstörungen. Tagsüber fehlt mir häufig Geduld und Gelassenheit, dazu die Gewissheit, ein chronisch krankes Kind zu haben, das alles ist belastend. Sehr belastend. Ich vergleiche ihn ständig mit gleichaltrigen Kindern und stelle fest, dass er anders ist. Er kann nicht klettern. Wird er geschubst, fällt er hin. Mit den Händen kann er sich dabei nicht abstützen, dazu fehlt die Kraft. Er schlägt deshalb immer sehr hart auf. Will er die Treppe hoch, muss er auf allen Vieren wie ein Krabbelkind hochkriechen. Hinunter muss ich ihn tragen. Draussen läuft er vielleicht 75 Meter, dann mag er nicht mehr.

Weihnachten verbringen wir bei meinen Eltern und Geschwistern in Schweden. Den Kindern macht es nichts aus, dass es während fast 14 Tagen regnet... Mir schon. Es passt zu meinem Gemütszustand.

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